Was war passiert?
Am 30. November habe ich vor meinem Bildschirm gesessen und hatte ein Problem: Der Newsletter sollte am 1. Dezember raus. Aber zwischen mir und einem fertigen Newsletter standen noch drei Beratungsgespräche, eine Trainingsvor- und nachbereitung und ein halbes Dutzend andere Projekte, die nicht warten konnten.
Ich hätte den Newsletter trotzdem schreiben können. In drei hektischen Stunden. Mit halbgaren Inhalten. Und dem unbefriedigenden Gefühl, dass das Ergebnis "okay" wäre – aber eben nicht gut.
Also habe ich eine Entscheidung getroffen: Der Newsletter kommt später. Nicht weil ich es nicht geschafft habe. Sondern weil ich bewusst priorisiert habe.
Und genau das ist Qualitätsmanagement in Aktion.
In diesem Moment habe ich das gemacht, was ich meinen Kunden immer rate: Ich habe Qualität über Termintreue gestellt. Ich habe realistische Ressourcenplanung betrieben. Und ich habe eine Entscheidung getroffen, die das System schützt, nicht nur den einzelnen Output.
Und aus dieser Situation habe ich gelernt.

Ressourcenmanagement ist QM – nicht nur ein schönes Wort in der Norm
Wenn Sie die ISO 9001 aufschlagen, finden Sie in Kapitel 7 das Thema "Ressourcen". Ihre Organisation muss ermitteln und bereitstellen, welche Ressourcen für ein wirksames Qualitätsmanagementsystem erforderlich sind.
Das heißt konkret: Wenn die Ressourcen nicht ausreichen, leidet die Qualität.
Und das gilt nicht nur für Maschinen und Material. Das gilt vor allem für die wertvollste Ressource, die wir haben: Zeit und Arbeitskapazität.
Das Phänomen "Maßnahmenstau"
In der Praxis sieht das oft so aus:
- Alle Projekte sind super wichtig
- Alle Deadlines sind super dringend
- Alle Aufgaben sind absolut unverzichtbar
- Und Sie mittendrin mit 40 Stunden pro Woche
Das Problem: Die Kapazität ist endlich. Und wenn Sie versuchen, allen gerecht zu werden, entsteht genau das, was Ressourcenexperten "Maßnahmenstau" nennen: Die wichtigen Dinge bleiben liegen, weil die Pipeline mit allem verstopft ist, was schnell über den Tisch kam.
Die unwichtigen Maßnahmen blockieren die wichtigen. Und am Ende schaffen Sie weder das eine noch das andere richtig gut.
Mein Newsletter-Beispiel übersetzt: Hätte ich ihn am 1. Dezember durchgeprügelt, hätte ich:
- Drei wichtige Kundengespräche verschoben (die bezahlen meine Rechnungen)
- Eine Trainingsvor- und nachbereitung geschludert (die Teilnehmer hätten es gemerkt)
- Einen mittelmäßigen Newsletter produziert (Sie hätten es auch gemerkt)
Das wäre niemandem geholfen gewesen.
Was ich konkret geändert habe – mein Mini-KVP
Statt mich zu ärgern oder mich zu entschuldigen, habe ich das gemacht, was wir im QM immer predigen: Aus der Abweichung lernen und das System verbessern.
- Was ist schiefgelaufen?
- Warum ist es schiefgelaufen?
- Was ändere ich, damit es nicht wieder passiert?
Meine drei konkreten Maßnahmen:
1. Fester Newsletter-Block im Kalender
Ich habe mir jetzt einen festen 4-Stunden-Block für den Newsletter reserviert – nicht verhandelbar. Der Block liegt eine Woche vor dem Versandtermin. Das gibt mir Puffer, falls etwas dazwischenkommt.
Warum das wichtig ist: Ohne festen Block rutscht der Newsletter immer nach hinten, weil er kein "hartes" Deadline hat. Aber wenn ich die Zeit blocke wie einen Kundentermin, wird sie geschützt.
Technisch umgesetzt: Ich habe in meinem Kalender einen wiederkehrenden Termin "Newsletter-Produktion" eingetragen. Mit Erinnerung. Und ich behandle ihn wie einen Kundentermin – also nicht verschiebbar, es sei denn, es brennt wirklich.
2. Checkliste "Newsletter fertig"
Ich habe eine einfache Checkliste erstellt mit allen Schritten, die zum fertigen Newsletter gehören. Das verhindert, dass ich in letzter Minute merke: "Oh, da fehlt ja noch was!"
Meine Checkliste sieht so aus:
- Themen recherchiert und ausgewählt
- Hauptbeitrag geschrieben
- Aktuelle Trainingsangebote aktualisiert
- Links geprüft
- Korrekturgelesen
- Newsletter-System vorbereitet
- Testversand gemacht
Warum das wichtig ist: Mit Checkliste muss ich weniger über die formalen Dinge nachdenken und kann mich mehr mit den Inhalten beschäftigen.
3. Vertretungsregel
Wenn es wirklich eng wird, gibt es jetzt einen Plan B: Ein "Best of" aus älteren Inhalten statt hektischer Neuproduktion. Damit ist der Rhythmus gesichert, ohne dass die Qualität leidet.
Konkret bedeutet das: Ich habe mir eine Liste mit meinen fünf meistgelesenen Blogbeiträgen angelegt. Wenn ich wirklich keine Zeit habe, schicke ich einen kurzen persönlichen Text plus "Für alle, die es verpasst haben" mit einem dieser Beiträge. Das ist immer noch besser als ein halbgarer neuer Text.
Warum das wichtig ist: Es nimmt den Druck raus. Ich habe einen Notfallplan. Und das reduziert das Risiko, dass ich in Panik einen schlechten Newsletter rausschicke.
Das Ergebnis
Der Newsletter kommt im Dezember eine Woche später – aber dafür mit Inhalten, die ich guten Gewissens rausschicken kann.

Priorisierung ist eine QM-Methode – keine Willkür
Viele denken bei Priorisierung an Bauchgefühl oder an die lauteste Stimme im Meeting. Aber im Qualitätsmanagement gibt es dafür klare Kriterien und Methoden.
Warum ist das wichtig? Weil "Bauchgefühl-Priorisierung" dazu führt, dass:
- Die lautesten Projekte gewinnen (nicht die wichtigsten)
- Die sympathischsten Kollegen bevorzugt werden
- Politische Machtspiele entscheiden statt Fakten
- Sie sich am Ende rechtfertigen müssen: "Warum haben Sie das nicht gemacht?"
Mit einer systematischen Priorisierung können Sie begründen, warum Sie was wann gemacht haben. Das schützt Sie. Und es macht Ihre Entscheidungen nachvollziehbar.
Die wichtigsten Fragen für professionelle Priorisierung
1. Zielbeitrag: Welche Aufgabe unterstützt die strategischen Ziele am meisten?
Beispiel: Ihr Unternehmen will die Kundenzufriedenheit steigern. Dann hat die Optimierung des Beschwerdemanagements höhere Priorität als die Aktualisierung der internen Organigramme.
2. Kundennutzen: Was hat den größten Einfluss auf Kundenzufriedenheit?
Beispiel: Ein Kunde beschwert sich über lange Bearbeitungszeiten. Dann hat die Prozessoptimierung höhere Priorität als das neue Archivierungssystem.
3. Wirtschaftlicher Nutzen: Wo ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis am besten?
Beispiel: Ein Projekt kostet 100 Stunden und spart 500 Stunden pro Jahr. Ein anderes kostet 50 Stunden und spart 50 Stunden pro Jahr. Das erste hat den besseren ROI.
4. Umsetzungswahrscheinlichkeit: Was kann ich realistisch mit den vorhandenen Ressourcen schaffen?
Beispiel: Ein Projekt braucht die Zustimmung von drei Abteilungen, die sich selten einig sind. Ein anderes kann ich allein umsetzen. Letzteres hat höhere Umsetzungswahrscheinlichkeit.
Wenn Sie diese vier Fragen ehrlich beantworten, wird schnell klar: Nicht alles, was laut "dringend!" schreit, ist auch wirklich wichtig.
Ein einfaches Tool: Die Prioritätenmatrix
Sie kennen vielleicht die Eisenhower-Matrix (wichtig/dringend). Aber im QM arbeiten wir oft mit einer erweiterten Version, die mehr Faktoren berücksichtigt.
So funktioniert's:
Sie bewerten jede Aufgabe nach den vier Kriterien oben mit Punkten von 1 (niedrig) bis 5 (hoch). Dann addieren Sie die Punkte.
Das Ergebnis: Die Kundenprojekte haben natürlich die höchste Priorität. Wenig überraschend, aber gut, das schwarz auf weiß zu haben.
Der Trick bei Überlastung: Die "Glas ist voll"-Frage
Stellen Sie sich vor, Ihre Geschäftsführung kommt und sagt: "Wir brauchen noch dieses neue Projekt. Können Sie das übernehmen?"
Ihr erster Impuls ist vielleicht: "Äh, ja, ich versuch's." Oder: "Nein, ich kann nicht mehr."
Beides ist suboptimal. Das erste führt zu Überlastung. Das zweite klingt nach Verweigerung.
Besser ist die "Glas ist voll"-Frage:
"Gerne. Dann schauen wir mal auf meine aktuelle Auslastung. Ich arbeite gerade an Projekt X, Y und Z. Wenn das neue Projekt dazukommt, braucht es etwa 8 Stunden pro Woche. Was soll ich dafür zurückstellen?"
Was passiert dann?
- Sie zwingen die Entscheider:innen, sich die Realität anzuschauen.
- Sie machen sichtbar: Das Glas ist voll.
- Sie bieten keine Ausrede, sondern eine Entscheidungsgrundlage.
- Sie zeigen: Ich bin bereit, das zu machen – aber dann muss was anderes warten.
Was das mit Ihrer Arbeit zu tun hat
Vielleicht denken Sie jetzt: "Schön für Sie, Frau Wienken, dass Sie Ihren Newsletter verschieben können. Aber ich habe solche Freiheiten nicht."
Stimmt. Sie können nicht einfach ein Audit verschieben oder eine Zertifizierung ausfallen lassen.
Aber Sie können:
1. Transparent machen, welche Ressourcen Sie haben und was realistisch ist
Führen Sie eine einfache Projektübersicht. Zeigen Sie, woran Sie arbeiten und wie viel Zeit das bindet. Visualisierung schafft Verständnis.
2. Mit Priorisierungskriterien arbeiten, die über "alles ist wichtig" hinausgehen
Nutzen Sie die Prioritätenmatrix. Bewerten Sie Aufgaben nach objektiven Kriterien. Und kommunizieren Sie die Ergebnisse.
3. Risiken benennen, wenn Kapazitäten überlastet sind
Statt "Ich schaffe das nicht" sagen Sie: "Wenn wir das so machen, riskieren wir, dass die Qualität leidet / der Termin wackelt / das Audit schiefgeht."
4. Alternativen anbieten statt nur zu sagen "geht nicht"
Kommen Sie mit Optionen: "Wir können das so machen: Option A (später starten), Option B (kleinerer Umfang) oder Option C (externes Budget für Unterstützung)."
Und vor allem: Sie können aufhören, sich schuldig zu fühlen, wenn Sie nicht alles schaffen.
Denn Überlastung ist ein Systemfehler, kein persönliches Versagen.
Drei Fragen, die Sie sich jetzt stellen sollten
1. Wo in Ihrer Arbeit gibt es gerade einen "Maßnahmenstau"?
Welche wichtigen Dinge bleiben liegen, weil die Pipeline mit allem verstopft ist, was schnell über den Tisch kam?
Machen Sie eine ehrliche Bestandsaufnahme: Welche Projekte laufen gerade? Welche davon sind wirklich wichtig? Und welche fressen nur Zeit, ohne echten Mehrwert zu bringen?
2. Haben Sie Ihre Kapazitäten jemals systematisch erfasst?
Oder arbeiten Sie nach dem Prinzip "irgendwie wird's schon"?
Probieren Sie es mal aus: Schreiben Sie eine Woche lang auf, wofür Sie wie viel Zeit verwenden. Sie werden überrascht sein, wo die Zeit tatsächlich hingeht.
3. Wie kommunizieren Sie Überlastung in Ihrer Organisation?
Gibt es eine Kultur, in der man ehrlich sagen kann: "Das schaffe ich nicht in der Qualität, die nötig ist"?
Oder ist die Kultur eher: "Wer nicht mitkommt, ist nicht belastbar genug"?
Wenn Letzteres – dann ist das ein Warnsignal. Denn eine Kultur, die Überlastung normalisiert, produziert langfristig schlechte Qualität.

Wenn Sie nicht nur lesen, sondern auch direkt umsetzen wollen
Ich biete regelmäßig Live-Trainings zu allem rund um menschenzentriertes QM an. Alle Infos zu den Live-Trainings finden Sie hier
📝Fazit
Der verspätete Newsletter war keine Panne. Er war eine bewusste Qualitätsentscheidung. Und er hat mir gezeigt, dass ich mein eigenes System anpassen muss – genau wie ich es meinen Kunden immer rate.
Qualität braucht manchmal Luft zum Atmen. Und Ressourcenmanagement ist kein nice-to-have, sondern ein Kernbestandteil wirksamen Qualitätsmanagements.
Egal ob Newsletter, Audit-Vorbereitung oder Prozessoptimierung: Wenn die Ressourcen nicht reichen, leidet die Qualität.
Und das ist nicht Ihre Schuld. Das ist ein Systemthema.
Was können Sie also tun?
- Machen Sie Kapazitäten sichtbar.
- Arbeiten Sie mit systematischer Priorisierung.
- Benennen Sie Risiken statt persönlicher Grenzen.
- Bieten Sie Alternativen an.
- Und hören Sie auf, sich schuldig zu fühlen.
❓FAQ zu "Qualität braucht manchmal Luft zum Atmen"
Ressourcenmanagement und Priorisierung im QM
Frage: Was ist Ressourcenmanagement im Qualitätsmanagement?
Antwort: Ressourcenmanagement im Qualitätsmanagement bedeutet, dass Sie systematisch planen, welche Ressourcen (Zeit, Personal, Budget) für ein wirksames QM-System erforderlich sind. Laut ISO 9001 (Kapitel 7) müssen Organisationen die erforderlichen Ressourcen ermitteln und bereitstellen. Wenn die Ressourcen nicht ausreichen, leidet die Qualität.
Frage: Wie priorisiere ich Aufgaben im QM professionell?
Antwort: Professionelle Priorisierung im QM nutzt klare Kriterien statt Bauchgefühl. Bewerten Sie jede Aufgabe nach: (1) Zielbeitrag – welche Aufgabe unterstützt strategische Ziele am meisten? (2) Kundennutzen – was hat den größten Einfluss auf Kundenzufriedenheit? (3) Wirtschaftlicher Nutzen – wo ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis am besten? (4) Umsetzungswahrscheinlichkeit – was können Sie realistisch mit vorhandenen Ressourcen schaffen?
Frage: Was ist ein Maßnahmenstau im Qualitätsmanagement?
Antwort: Ein Maßnahmenstau entsteht, wenn unwichtige Maßnahmen die Maßnahmenpipeline blockieren und wichtige Projekte mangels Kapazität nicht durchgeführt werden können. Das passiert, wenn alle Aufgaben als "super wichtig" und "super dringend" eingestuft werden, aber die Kapazität begrenzt ist. Die Lösung ist systematische Priorisierung mit klaren Kriterien.
Frage: Was ist die Prioritätenmatrix im QM?
Antwort: Die Prioritätenmatrix ist eine erweiterte Version der Eisenhower-Matrix. Sie bewerten jede Aufgabe nach mehreren Kriterien (Zielbeitrag, Kundennutzen, wirtschaftlicher Nutzen, Umsetzbarkeit) mit Punkten von 1-5. Die Aufgabe mit der höchsten Punktzahl hat objektiv die höchste Priorität. Das macht Priorisierung nachvollziehbar und schützt vor politischen Entscheidungen.
Frage: Wie funktioniert die "Glas ist voll"-Frage?
Antwort: Die "Glas ist voll"-Frage hilft bei Überlastung. Wenn ein neues Projekt dazukommt, fragen Sie: "Wenn wir das Neue reinnehmen – was nehmen wir dafür raus?" Das zwingt Entscheider, ehrlich über Kapazitäten zu sprechen und macht sichtbar, dass die Kapazität begrenzt ist. Sie bieten keine Ausrede, sondern eine Entscheidungsgrundlage.
Frage: Was ist ein KVP im Qualitätsmanagement?
Antwort: KVP steht für kontinuierlicher Verbesserungsprozess. Das Prinzip ist einfach: (1) Was ist schiefgelaufen? (2) Warum ist es schiefgelaufen? (3) Was ändere ich, damit es nicht wieder passiert? Im QM geht es nicht darum, perfekt zu sein, sondern aus Fehlern zu lernen und das System besser zu machen.
Frage: Warum sollte ich nie mit 100% Kapazität planen?
Antwort: Ein realistischer Puffer liegt bei 80-85% Kapazität. Wenn Sie mit 100% planen, wird jede kleine Störung (Krankheit, dringende Anfragen, unerwartete Probleme) zum Qualitätsrisiko. Der Puffer ist keine Verschwendung, sondern Qualitätssicherung. Er gibt Ihnen Raum für Unvorhergesehenes, ohne dass die Qualität leidet.
Frage: Ist Überlastung ein persönliches Versagen?
Antwort: Nein. Überlastung ist ein Systemfehler, kein persönliches Versagen. Wenn Sie dauerhaft bei 110% oder 120% Auslastung liegen, hat Ihre Organisation ein strukturelles Ressourcenproblem. Das können Sie sachlich benennen – mit Zahlen, ohne Drama. Ihre Aufgabe als QMB ist es, Risiken zu benennen und Lösungen vorzuschlagen, nicht alles irgendwie hinzukriegen.
Frage: Wo finde ich Unterstützung beim Thema Ressourcenmanagement und Priorisierung im QM?
Antwort: Ursula Wienken von MQ-Köln ist spezialisiert auf praxisorientiertes Qualitätsmanagement für Bildungsträger, Beratungsunternehmen und soziale Dienstleister. Sie bietet Workshops wie "Wirksam ohne Weisungsbefugnis" (Februar 2026) und "Chancenmanagement nach ISO 9001" (April 2026) sowie individuelle Beratung zu QM-Systementwicklung, AZAV-Zertifizierung und Prozessoptimierung. Kontakt: mail@mq-koeln.de | www.mq-koeln.de
